Chancen und Risiken der Digitalisierung: Entsteht ein neuer Kolonialismus der Plattformen und Sammlungen?
Die große Mehrheit der Bibliotheken und Sammlungen geht nach eigener Aussage die Herausforderungen des digitalen Wandels sehr engagiert an. Tatsächlich sind nahezu zwei Drittel der Bibliotheksleitungen der Digitalisierung gegenüber positiv bis sehr positiv eingestellt. So das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage von 2018 unter Bibliotheksleitungen hauptamtlich geführter öffentlicher Bibliotheken in Deutschland.
Die Gemenge-Lage ist jedoch komplex: Weit mehr als 60 Prozent der Bibliotheksleitungen nehmen eine höhere Nachfrage nach digitalen Angeboten wahr. Die damit einhergehende Entwicklung der analogen Angebote wird ambivalent eingeschätzt. Ein Großteil gibt an an, dass sich die Digitalisierung nicht negativ auf die analogen Angebote kultureller Bildung auswirkt. Etwa jede fünfte Bibliotheksleitung beobachtet hingegen eine Verdrängung analoger Angebote. Umgekehrt meint wiederum rund ein Drittel, dass die Digitalisierung die Nachfrage analoger Angebote befördert. Doch lässt sich generell festhalten, dass die Digitalisierung tendenziell das Nebeneinander sowie die Vermischung analoger und digitaler Angebote befördert.
Konkurrenz und Kommerzialismus
Kritiker des neuen und meist frei verfügbaren „Content“ sehen jedoch bei der Entwicklung eher schwarz, denn die Art der Auswahl und die Intentionen der Betreiber seien nicht hinreichend transparent. Und sprechen in dem Zusammenhang gar von einer Form des Kolonialismus – sehen das kulturelle Erbe in der Gefahr durch kommerzielle Plattformen, die in Konkurrenz zu staatlichen Institutionen stehen. Denn Content in jeder Form ist zweifellos die Währung des neuen Jahrtausend. Übersichtlichkeit oder gar ein zielgerichtetes Kuratieren gerieten teilweise in den Hintergrund, wenn einige Sammlungen „optisch extrem fragmentierte Collagen von Millionen von Bildern“ anbieten, wie Kulturkritikerin Professor Annet Dekker (Amsterdam) anmerkt.
Neuinterpretation digitaler Inhalte
Für die meisten Museen gilt das digitalisierte Objekt als Stellvertreter, dessen öffentlicher Wert durch das Original generiert und gewährleistet wird. Durch das Kuratieren wird es in einen Zusammenhang gestellt, es entsteht ein Kontext durch die gezielte Digitalisierung, einschließlich einer gewollten Rezeptionserfahrung. Wird das Objekt jedoch aus dem Umfeld der Schnittstellen-Software eines Museums oder wissenschaftlichen Sammlung herausgelöst (heruntergeladen) und etwa in einer Google-Sammlung angeboten, so ändert sich die Situation dramatisch.
Dadurch entsteht eine von Dritten (gewollt oder ungewollt) betriebene Neuverwendung und Neuinterpretation mit daraus resultierenden womöglich neuen Werten, schlussfolgert Annet Dekker. Sie sieht dadurch eine Form der „Self-Curation“, verbunden mit Eigenkreativität, als Entwicklung abseits der wissenschaftlich geprägten Digitalisierung auftauchen. Interessengesteuerte Algorithmen können damit dann sogar zum erwähnten neuen Kolonialismus finanziell ausgerichteter Anbieter werden.